Ein Online Vortrag von Gerald Hüther, einem sehr bekannten Neurobiologen, Hirnforscher und Bestsellerautor aus Deutschland, hat mich zu diesem Beitrag inspiriert. Seine Erkenntnisse und Erfahrungen aus der Hirnforschung sind meiner Meinung nach für die Begleitung von Kindern wertvoll. Gerald Hüther spricht sich für die Entfaltung des Potentials unserer Kinder aus. Vieles von seinen Erkenntnissen deckt sich für mich mit der Haltung und den Werten von Jesper Juul. Daher möchte ich für dich in diesem Beitrag seine Erkenntnisse mit denen ich besonders in Resonanz gehe und meine eigenen Erfahrungen und Beobachtungen zusammenfassen.
Erkenntnisse aus der Hirnforschung für Entfaltung des Potentials unserer Kinder
Gerald Hüther vergleicht in seinem Online Vortrag die Entfaltung des Potentials von Kindern mit dem Wachstum eines Baumes. Die volle Entfaltung des Potentials entsteht, wenn der Baum auf einer großen Wiese steht und dadurch viel Raum, Licht und Nährstoffe aus dem Boden hat. Er wird weder von anderen Bäumen, wie zum Beispiel in einem dicht gepflanzten Wald, eingeschränkt, noch in Form gebracht. Er kann sie so entfalten wie er ist – mit tiefen Wurzeln, einem kräftigen Stamm, wunderbaren Ästen und einem dichten Blätterdach.
Ähnlich wie ein Baum können auch Kinder ihr Potential entfalten. Dafür sind ihre Erfahrungen im Leben essentiell. Denn die Erfahrungen, die Kinder machen, prägen die neuronalen Verschaltungen im Gehirn und entwickeln somit die unbewussten Verhaltensmuster. Laut Gerald Hüther sind folgende Erfahrungen für Kinder wertvoll:
Kinder dürfen so sein wie sie sind
Eine sehr wesentliche Erfahrung für Kinder ist, ob sie so sein dürfen und gesehen werden wie sie sind. Grundlegend dafür ist, dass Kinder als eigenständige Individuen gesehen werden und nicht zum Objekt der Eltern gemacht werden. Unter Objekt versteht Gerald Hüther, dass ein Kind sich an die Erwartungen und Wünsche der Eltern anpassen muss. Für mich heißt dies, dass das Kind sich anpassen und entsprechen muss. Es darf nicht so sein wie es ist, sondern muss sich verändern und anpassen, damit es sich angenommen, dazugehörig und geliebt fühlt.
Dies ist meiner Meinung nach eine große Herausforderung für Eltern, da sie selbst vermutlich ihr ursprüngliches Wesen anpassen, verändern oder unterdrücken mussten, damit sie selbst die Erwartungen ihrer Eltern und der Gesellschaft entsprechen und sich dadurch zugehörig und geliebt gefühlt haben. Ein großes gesellschaftliches Phänomen unserer Zeit, das es für mich zu verändern gilt.
Erfüllung der kindlichen Grundbedürfnisse
Damit Kinder ihr Potential entfalten können, meint Gerald Hüther, versuchen sie zwei Grundbedürfnisse zu erfüllen:
- Ihren Entdeckerdrang: Sie wollen das Leben erkunden und entdecken. Sie sind neugierig und sehr interessiert. Vieles begeistert sie und daher hinterfragen sie viel. Bleibt diese Neugierde und dieses Interesse erhalten, können Kinder ihr Potential in die Welt einbringen.
- Ihren Gestaltungsdrang: Für uns Menschen ist es natürlich etwas gestalten und schaffen zu wollen. Es ist ein menschliches Grundbedürfnis, das auch Kinder haben. Daher sollten Eltern versuchen ihren Kindern den Raum zu bieten diesen Gestaltungsdrang ausleben zu können.
Zudem spricht sich der Neurobiologe dafür aus, dass Kinder sowohl Autonomie – sprich Eigenständigkeit – als auch Verbundenheit und Geborgenheit brauchen. Eltern, die beides ihrem Kind an Erfahrung mitgeben können, denke ich, beschenken ihr Kind reich. Doch als Mutter weiß ich auch wie schwierig es ist beides dem Kind zu geben und dabei auch noch selbst gut auf sich zu achten. Aber es ist nicht unmöglich und was ich an dieser Stelle auch sagen möchte: Meinem Gefühl nach reicht es, wenn Kinder diese Erfahrungen immer wieder machen. Es muss nicht perfekt sein und nicht immer gelingen.
Was bedeutet dies konkret für die Begleitung von Kindern?
Diese Erkenntnisse aus dem Online Vortrag von Gerald Hüther waren mir nicht neu, da ich mich immer wieder mit seinen Erkenntnissen beschäftigt habe. Doch erst bei dieser Veranstaltung habe ich, glaube ich, verstanden was er wirklich meint. Und genau das möchte ich dir nun aus meiner eigenen Sicht, in meinen eigenen Worte nochmals berichten.
Kinder brauchen Raum
Wie ein Baum mit einer prächtigen Krone brauchen Kinder Raum um sich selbst zu einem Baum mit eine großen Krone entwickeln zu können. Ein junger Baum wächst bekanntlich nicht oder schlecht unter einem großen dominanten Baum. Daher brauchen Kinder – als junge Bäume – Platz sich entwickeln zu können. Für mich heißt dies auch sich als Eltern zurückzunehmen und dem Kind seinen Raum geben.
Für mich ist das Freiraum, wo sie ausprobieren, experimentieren und entdecken dürfen. Bei meinem eigenen Kind beobachte ich wie wichtig es ist, dass es seinen Raum hat sich zu bewegen und verschiedenste Körperbewegungen ausprobieren und trainieren zu dürfen. Dafür wird bei uns immer wieder mal das Wohnzimmer zum Turnzimmer umgebaut.
Wichtig dabei finde ich, dass dieser Raum auch eine Grenze hat. Diese Grenze beginnt dort, wo die persönlichen Grenzen der Eltern beginnen. Vielleicht ist bei manchen Eltern es undenkbar, dass das Wohnzimmer sich in ein Turnzimmer verwandelt, weil die Eltern zum Beispiel selber gerne am Sofa entspannen möchten oder es ein zentraler Raum im Haus ist. Vielleicht gibt es dann eine andere Möglichkeit so einen Raum zu schaffen, der für das Kind und auch für die Eltern passt. In meinem Fall ist es so, dass das Wohnzimmer gerne ein Turnzimmer sein darf, so lange es sich danach wieder in ein Wohnzimmer verwandelt :) und nicht alle Räume in ein Turnzimmer umgebaut werden. Da sind also meine persönlichen Grenzen.
Kinder wollen Eigenverantwortung übernehmen
Besonders wichtig, finde ich, ist der Drang nach Eigenständigkeit von Kindern. Dies beginnt mit der Autonomiephase (auch Trotzphase genannt). Kinder wollen von Natur aus selbstständig sein. Doch dafür brauchen sie Zeit und Übung, denn sie können sich nicht gleich selber anziehen oder das Brot selber streichen.
Jesper Juul hat in mehreren Büchern geschrieben, dass Eltern, die es schaffen ihrem Kleinkind die Selbstständigkeit entwickeln zu lassen, zwar in dieser Zeit sehr gefordert sind und sich in Geduld und Nervenstärke beweisen dürfen. Aber sie werden dann, wenn das Kind 5 oder 6 Jahre ist mit einem hohen Maß an Selbstständigkeit belohnt.
Ich konnte das echt schwer glauben und als ich das las, dachte ich mir: „Oh, das glaube habe ich bis jetzt nicht so gut geschafft.“ Doch durch mein willensstarkes Kind habe ich über die Zeit gelernt, dass es wirklich gerne selbstständig ist und dort, wo ich es geschafft habe es machen zu lassen, dort hat es mit 5 Jahren tatsächlich ein hohes Maß an Selbstständigkeit erreicht. Und das kann ich dir sagen, ist wirklich wertvoll. Wertvoll für mein Kind, weil es sich selber helfen kann, weil es weniger von mir oder anderen abhängig ist und sehr wertvoll auch für mich, denn ich muss mich bei manchen Dingen viel weniger um mein Kind kümmern.
Dazu kommt, dass ich immer öfters beobachte wie gerne Kinder Eigenverantwortung übernehmen und wie schön sie es finden, wenn ihnen zugetraut wird, dass sie das tatsächlich selber können. Und erinnere dich an deine Kindheit zurück oder versetze dich in die Perspektive deines Kindes: wie schön es ist, wenn man selber etwas machen kann und darf, oder?
Kinder brauchen Vorbilder zur Orientierung
Damit Kinder ihr Potential entfalten können, denke ich, braucht es Erwachsene, die ihnen ein Vorbild sind. Ein Vorbild an dem sie sich bewusst und unbewusst orientieren können. In anderen Worten: Wenn Eltern selber sehr neugierig sind und sich für etwas begeistern können, überträgt sich das meinem Gefühl nach auch auf die Kinder. Ebenso wenn Eltern gerne etwas mit Freude und Begeisterung gestalten und machen.
In meinem Leben beobachte ich, dass mein Kind, dort wo ich nicht bewusst erziehe (auch wenn ich das eigentlich nicht mag, schaff ich es nicht immer, dass ich mich davon löse… ), sondern einfach so bin wie ich bin und unbewusst als Vorbild agiere, sich sehr ähnlich zu mir verhält. Zum Beispiel habe ich meinem Kind nicht bewusst beigebracht anderen Menschen zu helfen. Vielmehr habe ich ihn immer wieder gefragt: „Brauchst du Hilfe?“ Je nachdem ob er bejahte oder verneinte, habe ich geholfen oder nicht. Heute fragt er mich immer wieder: „Brauchst du Hilfe?“ oder „Ich möchte helfen. Was kann ich tun?“ Dazu kommt, dass ich dieses Verhalten von ihm auch im Umgang mit anderen Menschen beobachte.
Fazit
Nicht nur Kinder lernen von Erwachsenen, sondern auch Erwachsene können von Kindern lernen. Indem es Eltern gelingt ihren Kindern Raum für ihre Entfaltung zu geben und ihnen zutrauen, dass sie selbstständig etwas machen und Verantwortung für etwas übernehmen können, leisten sie einen großen Beitrag zur Entfaltung des Potentials ihrer Kinder. Ich wünsche mir, dass immer mehr Eltern diese Haltung integrieren – sprich die persönlichen Grenzen ihrer Kinder und ihre eigenen achten und für sich selbst Verantwortung übernehmen. Denn dadurch, glaube ich, können Kinder mehr so sein wie sie sind und viel mehr von ihrem Potential entwickeln und in die Welt einbringen.
Weitere Informationen zur Arbeit von Gerald Hüther findest du bei seiner Akademie für Potentialentfaltung.
Beitragsbild: Marcos Paulo Prado auf www.unsplash.com