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Der Begriff Trotzphase hält sich sehr hartnäckig in unserem Sprachgebrauch. Ich frage mich warum? Diesen Begriff empfinde ich als negativ und habe das Gefühl, dass der Fokus falsch ausgerichtet ist. Es konzentriert sich meiner Meinung nach auf die Reaktion des Kindes, die als Trotz eingeordnet wird. Das Kind trotz, weil es nicht das tut was von ihm erwartet wird. Die Eltern erwarten, dass das Kind „folgt“ und wenn dem nicht so ist, weil es sein eigenes Interesse verfolgt, wird es mit einem „Nein!“ gestoppt. Aus meiner Sicht ist es verständlich, dass das Kind seinen Frust, seinen Ärger in Form von Tränen und einem Wutanfall äußert.

Was passiert in der sogenannten „Trotzphase?“

Mit ungefähr 1,5 Jahren beginnt ein Kleinkind beginnt sich von seiner Mama zu lösen. Es will selbstständig die Welt erkunden und Dinge wie zum Beispiel das Schuhe anziehen oder das Essen essen alleine machen. Seinen eigenen Willen und sein eigenes Ich werden entdeckt. Das Kleinkind erfährt, dass es eine unabhängige Person ist, die auch ohne Mama und Papa etwas machen kann. Meiner Meinung nach ist das ein wertvoller Schritt in Richtung Eigenständigkeit. Es liegt in der Natur, dass Kinder sich Stück für Stück von den Eltern vor allem der Mama lösen. Daher finde ich für diese Entwicklungsphase den Begriff „Autonomiephase“ passender. Das Wort beinhaltet worum es in dieser Phase geht: Das Kleinkind soll autonom und unabhängig werden. Es soll selbstständig werden. Für mich bedeutet die Autonomiephase: mehr Freiheit, Selbstbestimmung, selber das Leben erkunden, eigene Erfahrungen sammeln und sich loslösen. Aber auch die persönlichen Grenzen von den Eltern kennen lernen.

Ein Kleinkind durch die Autonomiephase begleiten ist nicht immer einfach

Ein Kleinkind zu haben ist eine echte Herausforderung. Es ist nicht einfach die Balance zwischen der Freiheit und dem Drang nach Selbstständigkeit des Kindes und den eigenen Bedürfnissen als Mama gerecht zu werden. Insbesondere, weil hier oft große Unterschiede sind. Das Kind möchte selbstständig Essen und die Mama möchte nicht 3x am Tag oder öfters den kompletten Essbereich reinigen müssen. Kleinkinder möchten gerne selber das Essen von der Küche zum Esstisch tragen. Aber die Mama hat Angst, dass etwas verschüttet wird oder womöglich das ganze Essen am Boden liegt. Anziehen ist auch so ein Thema – Kleinkinder möchten sich gerne selber anziehen bzw. ausziehen. Doch die Mama hat vielleicht gerade nicht die Zeit dafür 10 Minuten zu warten bis beide Schuhe ausgezogen sind.

Was kannst du nun tun?

1. Zeit nehmen und dich in Geduld üben

Es ist sicher nicht leicht seinem Kleinkind zuzuschauen wie es langsam die Schuhe auszieht und sich vielleicht noch von etwas anderem ablenken lässt. Aber diese Zeit ist gut investiert. Denn es lernt die Schuhe aus- und anzuziehen und das zu einem Zeitpunkt, wo es für das Kind spannend und interessant ist. Wenn du es schaffst dich in Geduld zu üben, wird dein Kind schneller selbstständig und du wirst nicht noch X Monate oder Jahre beim Schuhe anziehen behilflich sein müssen.

2. Deinem Kind vertrauen

Gib deinem Kind das Gefühl, dass es was es auch es immer möchte schafft. Vertraue, dass dein Kind es schafft und übernimm, falls es doch schief geht, die Verantwortung für die Konsequenzen – ohne zu schimpfen, zu schreien, zu ermahnen oder was auch immer. Zum Beispiel: Das Kleinkind will selber Wasser aus dem Krug in ein Glas schütten. Wenn du es schaffst ihm zu vertrauen und daran glaubst, dass es dein Kind schafft ohne zu schütten, wird es klappen. Du stärkst dadurch seine Selbstständigkeit sowie sein Selbstvertrauen und sein Selbstgefühl (seine Beziehung zu sich selbst d.h. dass es selber an sich glaubt und sich selbst etwas zutraut).

3. Deinem Kind Freiraum geben, indem du dich zurücknimmst

Versuche dich zurückzunehmen und dein Kind mehr zu beobachten anstatt sofort einzugreifen. Bleiben wir bei dem vorherigen Beispiel: Wasser in ein Glas schütten. Wenn du dich zurück nimmst und nicht gleich behilflich eingreifst, hat dein Kind die Chance es selber auszuprobieren und zu lernen. Es wird dadurch schneller selbstständig und gleichzeitig stärkt es das Selbstvertrauen und das Selbstgefühl deines Kindes.

4. Starke Emotionen begleiten

Klar kannst du deinem Kleinkind nicht alles machen lassen. Es gibt Grenzen – deine persönlichen Grenzen. Es ist okay, wenn du einmal nicht möchtest, dass es jetzt beim Essen Wasser in sein Glas schüttet. Vielleicht bist du schon ko von dem Tag oder einfach nicht der Stimmung die Konsequenzen – alles aufzuwischen, wenn es schüttet – zu übernehmen.

Indem du deine Grenzen äußerst und beispielsweise „Nein, das will ich jetzt nicht.“ sagst, wird dein Kleinkind frustriert sein. Denn es kann sein Vorhaben nicht umsetzen. Es beginnt zu weinen, haut vielleicht um sich und wird wütend. Das alles ist normal und ein wichtiger Lernschritt in dieser Phase. Kleinkinder lernen ihre Gefühle kennen und einzuordnen. Dafür ist es wichtig, dass du da bist und seinen Wutanfall oder seine Trauer begleitet. Du brauchst nichts zu außer da zu sein. Präsent sein und die starken Gefühle gemeinsam mit ihm aushalten. Dein Kind eventuell in den Arm nehmen, wenn es das möchte. Erklärungen, Ablenkungen und Aufmunterungen sind in der Situation überflüssig. Es geht darum was dein Kind gerade fühlt. Dein Kind wird sich beruhigen.

In diesem Prozess lernt dein Kleinkind unheimlich viel: 1. Es ist okay, dass was ich fühle. 2. Jemand ist für mich da. 3. Es lernt wie sich Emotionen anfühlen. 4. Dein Kind lernt deine persönlichen Grenzen kennen und erfährt mehr darüber wer du bist. 5. Die Erfahrung, dass es okay ist seine Grenzen zu spüren und zu äußern ist ebenso hilfreich und wichtig für die Entwicklung von Empathie.

Die Autonomiephase ist eine wesentliche Phase in der kindlichen Entwicklung. Aus meiner Sicht brauchen Kinder in dieser Zeit aufmerksame, feinfühlige, achtsame Eltern, die ihnen Zeit geben und Geduld entgegenbringen, die ihnen vertrauen, dass sie das was sie machen möchten auch schaffen werden, die ihnen Freiraum geben um selber die Welt zu entdecken und dennoch liebevoll persönliche Grenzen äußern und die damit verbundenen Frustrationen und Emotionen mit ihnen aushalten und begleiten.

Beitragsbild: © Brina Blum – Unsplashed

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