„Mein Kind testet mal wieder meine Grenzen.“

Ganz oft höre ich von Eltern diesen oder einen ähnlichen Satz. In vielen Familien gibt es die Überzeugung, dass Kinder, vor allem in der Trotzphase, die Grenzen ihrer Eltern testen. Diese Phasen sind anstrengend für Eltern und Kinder. Für Kinder ist es mühsam, denn sie entdecken gerade ihr eigenes Ich, ihren Willen und ihre persönlichen Grenzen. Sie sind quasi dabei sich selbst kennen zu lernen. Für sie ist es anstrengend in dieser spannenden, entdeckungs- und lehrreichen Phase immer wieder Nein zu hören und sich an viele Regeln in der Familie halten zu müssen. Gleichzeitig ist es für Eltern anstrengend, denn das ständige Nein sagen, Erinnern und Exekutieren von Regeln ist auch kraftraubend. Am Ende des Tages sagen viele Mütter, dass sie ihre Gelassenheit und Geduld verlieren und alles nur noch anstrengend ist.

Kinder testen keine Grenzen.

Ich bin der Meinung, dass Kinder keine Grenzen testen. Grenzen testen heißt für mich, dass ich etwas absichtlich oder vielleicht sogar böswillig ausprobiere, um etwas zu erreichen oder jemanden zu etwas zu bringen. Für mich schwingt bei der Formulierung „Grenzen testen“ die Unterstellung mit, dass etwas absichtlich gemacht wird. Doch das ist es bestimmt nicht. Vielmehr folgen Kinder ihrer Intuition und wollen die Welt und die Menschen um sich verstehen und kennen lernen. Dafür ist es nun mal notwendig auf die Grenzen von anderen zu stoßen und sie auch zu überschreiten, denn sonst würden die Kinder sich selbst und ihr Umfeld nicht kennenlernen.

„Indem wir die Grenzen von uns oder anderen überschreiten, haben wir die Möglichkeit zu erkennen, wo unsere Grenzen oder die Grenzen von anderen Menschen liegen. So lernen wir uns selbst und die Menschen um uns herum besser kennen.“

Warum überschreiten Kinder Grenzen?

Kinder übertreten („testen“) Grenzen, weil sie sich selbst und ihre Eltern besser kennen lernen wollen. Kleinkinder entdecken ihren eigenen Willen, ihr eigenes Ich, ihre eigenen Wünsche und ihre eigenen Grenzen. Dabei stoßen sie auf die persönlichen Grenzen von anderen. Insbesondere sind die persönlichen Grenzen von ihren Eltern, Geschwister und Großeltern ein großes Lernfeld. Denn die Familie bietet ein geschütztes Lernumfeld.

Zum Beispiel findet ein Kleinkind es super spannend was in einem Schrank alles an Kleidung ist. Die Mutter hingegen findet das nicht toll, da sie heute keine Zeit hat all die T-Shirts, Socken und Co wieder zusammenzulegen und einzuräumen. So stoßen zwei persönliche Grenzen aufeinander.

Kinder wollen aber nicht nur sich selbst kennenlernen, sondern auch ihre Eltern. Genau dies passiert im Zusammenspiel in der Familie. Wie im Beispiel oben folgt das Kind seinem Entdeckerdrang und erfährt dabei, dass es für seine Mutter nicht okay ist, alle T-Shirts und co aus ihrem Schrank zu räumen. Kinder wollen mit ihrem Verhalten also herausfinden wer die Eltern sind, wie sie ticken, was ihnen wichtig ist, was für sie gar nicht geht.

Sie möchten außerdem mit ihrem Verhalten ihre Eltern an vergessene oder unterdrückte Bedürfnisse erinnern. Denn oft haben Erwachsene im Laufe ihres Lebens gelernt auf gewisse Bedürfnisse nicht mehr zu achten. Dies orten Kinder mit ihren feinen Antennen und möchten mit ihrem Verhalten die Eltern darauf hinweisen, dass sie hier ein Bedürfnis, eine persönliche Grenze wieder entdecken können.

Wie können Eltern mit „grenzenaustestenden“ Kindern umgehen?

Grundsätzlich sehe ich zwei Möglichkeiten: 1. Die Eltern setzen dem Kind eine Grenze und 2. Die Eltern äußern ihre persönlichen Grenzen. Für mich ist dies kein Entweder-oder, sondern eher ein sowohl als auch. Es gibt Situationen, wo es wichtig und wertvoll ist, dass Eltern ihrem Kind eine klare Grenze setzen. Zum Beispiel wenn etwas gefährlich ist, wenn etwas für ein Kind und seine Entwicklung nicht gut ist, wenn ein Kind eine Situation nicht einschätzen kann, etc. Gleichzeitig brauchen Kinder auch Eltern, die klar ihre Grenzen zeigen.

Die Eltern setzen ihrem Kind eine Grenze

Wenn Eltern einem Kind eine Grenze setzen, dann sagen sie ganz klar, was sie von dem Kind wollen. Zum Beispiel:

  • „Der Fernseher wird nach dieser Folge ausgeschaltet. Für heute ist es genug.“
  • Das Kind ist müde, will aber nicht schlafen gehen. Die Mutter bringt es dennoch ins Bett und sagt zum Beispiel: „Ich bringe dich jetzt ins Bett.“
  • „Nein, dieses Getränk – der Wein – ist noch nichts für dich.“

Für mich ist es okay, wenn man dem Kind Grenzen setzt – vor allem wenn es wiederkehrende Grenzen in Form von Regeln sind. Denn diese schaffen Klarheit und erleichtern den Familienalltag. Jeder kennt die Grenze oder Regel und weiß Bescheid. Es verhindert, dass man sich ständig etwas Neues ausmachen muss und sich ständig auf etwas Neues einlassen muss. Außerdem geben Regeln auch Sicherheit und Orientierung. Mit gewissen Regeln in der Familie ist für alle klar wie „der Hase läuft“. Dennoch ist es wichtig, dass es nicht zu viele Regeln gibt, denn das engt das Bedürfnis nach Autonomie und Selbstbestimmung ein. Zu viele Regeln führen meiner Meinung nach zu einer Enge und Starre gegen die Kinder meist rebellieren.

Wichtig ist auch, dass Eltern nicht Grenzen setzen, indem sie ihrem Kind etwas überstülpen oder das Kind bevormunden. Zum Beispiel: „Geh jetzt spielen.“ Hier wird eine Grenze formuliert, die dem Kind sagt was es zu tun hat, anstatt zu sagen was man als Erwachsener eigentlich selber tun will. Zum Beispiel: „Ich will jetzt meine Ruhe für ein paar Minuten haben.“ Dies ist drückt die eigene persönliche Grenze aus und verletzt das Kind nicht. Kinder können solche klaren Ansagen oft gut annehmen.

Die Eltern äußern ihre persönlichen Grenzen

Eine andere Möglichkeit mit einem „grenzenaustestenden“ Kind umzugehen ist, seine eigenen persönlichen Grenzen zu äußern. Wenn das Kind zum Beispiel ständig Unterhaltung und Aufmerksamkeit sucht, kann man als Elternteil klar seine persönliche Grenze äußern: „Ich möchte jetzt nicht mit dir spielen.“ Oder „Ich möchte nicht mehr mit dir spielen.“

Das heißt Eltern äußern was sie selber jetzt brauchen oder tun wollen und setzten dies auch um. Es wird zwar eine Zeit brauchen bis das Kind damit umgehen kann, wenn es so eine Umgangsweise noch nicht kennengelernt hat. Doch mit der Zeit lernt das Kind die Eltern und deren persönliche Grenzen kennen und akzeptieren.

Dieses Verhalten hat viele positive Lernerfahrungen: Das Kind lernt, dass es okay ist seine Bedürfnisse und Grenzen zu zeigen. Es ist also in Ordnung auf sich zu achten. Weiteres lernt es, dass andere Menschen persönliche Grenzen haben und dass es wichtig ist diese zu akzeptieren. Das Ergebnis ist, dass jedes Familienmitglied mehr bei sich selbst in der Aufmerksamkeit ist d.h. spürt und äußert was es selber braucht. Dadurch kann sich jeder individuell entfalten und der Familienalltag wird entspannter.

„Je mehr Eltern ihre persönlichen Grenzen und Bedürfnisse äußern, umso mehr sind sie in der Aufmerksamkeit bei sich und nicht bei dem Kind. So kann jeder sein wie er oder sie ist und der Familienalltag wird gelassener.“

Fazit

Wenn Erwachsene darüber sprechen, dass ihre Kinder Grenzen testen, dann ist eigentlich gemeint, dass Kinder herausfinden wollen wer sie selber und ihre Eltern sind. Sie wollen lernen wie das Leben in dieser Familie tickt und wer wie ist. Aus meiner Sicht eine wunderbare Haltung, die hinter dem „Grenzen testen“ steckt.

Der Umgang damit ist gewiss für Eltern herausfordernd. Für mich ist es entscheidend dem Kind nicht zu viele Grenzen zu setzen, sondern mehr seine eigenen Bedürfnisse und Grenzen zu äußern. Trotzdem denke ich, dass es okay und wichtig ist, auch dem Kind einmal Grenzen zu setzten vor allem wenn das Kind eine Situation (Gefahr, Auswirkung auf die Entwicklung des Kindes, etc.) nicht einschätzen kann.

Beitragsbild: Oleksandr Koval auf www.unsplash.com